Osterholz-Scharmbeck. Die Osterholz-Scharmbecker sind stolz auf ihr Gymnasium. Eine Erfolgsgeschichte, deren erste Kapitel 1960 geschrieben wurden und die die Erinnerung an die äußerst bescheidenen Anfänge in der Bahnhofstraße mittlerweile hat verblassen lassen. Klaus Schikore, Studiendirektor i. R., schildert in seinem neuen Buch „Schiko – Porträtskizzen: Der Schulmeister aus einem vergangenen Jahrhundert“, wie er dem Ruf seiner ersten Dienststelle dorthin folgte. Genauer: Einem „eigenartig beißenden Gestank“, der ihn schon am Bahnhof empfangen und von dort aus den Weg zu den Backsteinbauten gewiesen hatte, in denen sich die weiterführende Schule befand. Verantwortlich für die Geruchsbelästigungen waren die Ausdünstungen der Abwässer, die bei der Produktion in den Reiswerken anfielen. Die Bildungsstätte war in direkter Nachbarschaft zu den imposanten Fabrikgebäuden angesiedelt worden.
Abflussrohre unterm Kellerboden
„Die Abflussrohre befanden sich unter dem Kellerboden des Schulgebäudes“, berichtet der pensionierte Pädagoge. Inzwischen jenseits der 90, lächelt er lausbübisch verschmitzt, als er darauf zu sprechen kommt, wie ihn der damalige Schulleiter Richard Schirmer anwies, für die vor einem Oberschulrat aus Hannover zu haltende Lehrprobe seines Assessors einen besonders „anrüchigen“ Raum auszusuchen. „Mensch, Schiko, der soll sehen, unter welchen Bedingungen wir hier arbeiten müssen.“ Der hohe Besucher aus der Landeshauptstadt soll entsetzt gewesen sein.
Weitere Anekdoten legen nahe, dass Gymnasien in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg nicht sonderlich wertgeschätzt wurden. Zumindest in Osterholz-Scharmbeck nicht. Schikore, von 1972 bis 1991 dort Schulleiter am Scharmbecker Gymnasium, belegt das in seinem neuen Buch auch mit Zitaten aus dem OSTERHOLZER KREISBLATT. „Die Initiative“, so das Fazit in einem der erwähnten Artikel, „ging nicht von den Kommunalbehörden aus, sondern von der Bevölkerung. Die parlamentarischen Körperschaften verhielten sich eher ablehnend.“ Ein Kreistagsabgeordneter scheute sich nicht, in öffentlicher Sitzung dafür eine – aus heutiger Sicht recht originelle – Begründung abzugeben. „Wir brauchen keine Oberschule, denn dann wird es noch schwieriger, junge Leute als Arbeitskräfte für die Landwirtschaft zu erhalten.“ Doch vielen Widerständen zum Trotz ging das Gymnasium im April 1960 mit 72 Schülern zwei Lehrern und zwei Klassen, einer fünften und einer siebten, an den Start. Ein fulminanter Auftakt. Schikore: „Im zweiten Jahr waren wir 148 Schüler in vier Klassen, 1965, das Jahr des Umzugs in die Loger Straße, waren es 477 Schüler in 16 Klassen.“
Bedenkenträger hatten unter anderem daran gezweifelt, dass die Schule mit ihren eher schlichten Angeboten für die „Kinder von Ärzten, Juristen und Ingenieuren“ attraktiv genug sein würde. Schikore lässt dazu in seinem neuen Buch eine Schülerin der zehnten Klasse zu Wort kommen, die im Frühjahr 1965 kein gutes Haar an der Einrichtung ließ. Kostprobe: „In den winzigen Waschräumen befindet sich wohl ein kleines Waschbecken, doch Seife ist dort nicht zu finden, und das Handtuch, sorgsam am Haken festgenäht, sieht aus, als habe es schon zur Zeit unserer Eltern dort gehangen.“
Vom Provisorium in den "Palast"
Verglichen mit dem primitiven Provisorium in der Bahnhofstraße war dem späteren Direktor das neue Gebäude mit seiner kühn geschwungenen Bogenarchitektur wie ein Palast vorgekommen. Der Studiendirektor i. R. nennt sich übrigens selbst "Schulmeister“, keineswegs selbstironisch, wie er versichert. Vielmehr soll in aller Bescheidenheit eine Analogie zu den Meistern des Handwerks betont werden, auf die er große Stücke hält. Die Bildungspolitik, erklärt er in diesem Zusammenhang, hätte einst die Weichen falsch gestellt, mit der Folge, „dass nicht mehr für die unterschiedlichsten Berufsstrukturen ausgebildet wurde, sondern alle Abitur machen wollten.“ Als Folge hätten wir heute den Fachkräftemangel.
Schikore hält ebenfalls viel vom persönlichen Kontakt, von Freundschaften auch, die sich in Klassenverbänden entwickeln und erhalten konnten, nicht aber in Kurssystemen. Er selbst habe zwar als strenger Prüfer gegolten, sei aber in der Lage gewesen, das Verhältnis zu seinen Schülern auch „persönlich“ zu gestalten. Man habe sich gelegentlich durchaus über Privates ausgetauscht. Auf diese Weise ist der „Schulmeister“ auch für den Osterholz-Scharmbecker Stadtrat rekrutiert worden, in dem er von 1968 bis 1976 Sitz und Stimme besaß. „Schiko, warum gehen Sie mit Ihrer Lebenserfahrung nicht in die Politik?“, wurde er von einem seiner Schüler gefragt. Es war bekannt, dass Schikore sich in der Stralsunder Schülerzeitung kritisch zum Alleinherrschaftsanspruch des Regimes im sowjetisch besetzten Ostdeutschland geäußert und entsprechende Flugblätter verteilt hatte, dafür vom Moskauer Geheimdienst NKWD verschleppt und schließlich im Bautzener Stasi-Knast eingekerkert worden war. „Dort bin ich auch auf alte Sozialdemokraten getroffen.“
Flucht in den Westen
Nach Entlassung aus der Gefangenschaft und der Flucht in den Westen, dem Studium in Göttingen kam er Anfang der 1960er-Jahre nach Osterholz-Scharmbeck, wo den Verfolgten von zwei Diktaturen, der innerhalb Deutschlands gleich vier verschiedene politische Systeme kennen lernte und „zweimal vor Gewehrläufen stand“, ein ganz anderes Leben erwartete: Schulmeister, gut situiert, verheiratet, vier Kinder. Doch die Kriegserlebnisse, die Gewalterfahrungen in den Unrechtsstaaten und die düsteren Erinnerungen an das „gelbe Elend“ von Bautzen haben ihn geprägt. Der Frieden wurde so zu seinem Lebensthema, das er auch in elf Büchern und ungezählten Gedichten verarbeitet hat. Sein literarisches Vermächtnis für die Nachwelt.
Im Stadtrat war er Vorsitzender des Schulausschusses und bekam es als Mitglied des Planungsausschusses mit den Auswirkungen der Gebietsreform zu tun: Mit Wirkung vom 1. März 1974 wurden die Ortschaften Garlstedt, Heilshorn, Hülseberg, Ohlenstedt, Pennigbüttel, Sandhausen, Scharmbeckstotel, Teufelsmoor und der größte Teil der Ortschaft Freißenbüttel in die Stadt Osterholz-Scharmbeck eingegliedert.
2001 trat Schikore aus der SPD aus, weil sie in Berlin mitgeholfen hatte, die PDS – Nachfolgerin der ostdeutschen "Einheitspartei" – salonfähig zu machen. Möglicherweise hatte sich das Verhältnis zu seiner Partei aber auch schon ein wenig abgekühlt, als sich die Genossen in Osterholz-Scharmbeck mehrheitlich nicht für den Widerstand gegen den Bau der Panzertrasse nach Garlstedt gewinnen ließen. Doch auch als "Überparteilicher" verfolgt Schikore noch sehr aufmerksam das Geschehen in Deutschland und der Welt. Außenpolitisch hält er die Berliner Haltung zu Waffenlieferungen an die Ukraine für richtig („Auch die für die Verteidigung sind zum Töten da“) und glaubt, dass Europa sich unabhängiger machen sollte, sowohl von Russland als auch von den USA. Innenpolitisch versteht er Proteste gegen die Corona-Verordnungen, eingedenk des „Wirrwarrs“ der politischen Beschlüsse, doch es beunruhigt ihn, wenn „Reichsbürger und Superrechte brüllen, dass sie das Volk sind“. Man müsse doch aus der Geschichte Lehren ziehen, so wie er als Eliteschüler in einem totalitären Regime erlebt hat, "wie dieses Reich moralisch in Scherben gefallen ist", und daraus Konsequenzen zog. Gerade würde eine junge Generation damit beginnen, die Fehler und Versäumnisse der Väter auszuräumen. "Ich bin ein Fan von Fridays for Future".