Stimmen hinterm Stacheldraht

Klaus Schikore will mit seinem neuen Gedichtband die Erinnerungen Gefangener bewahren

 

 

FOTO CARMEN JASPERSEN Klaus Schikores literarischer Kampf "gegen das Vergessen" - so der Titel seines neuesten Gedichtbandes - geht weiter

VON MICHAEL SCHÖN

Osterholz-Scharmbeck. Der Verlust der geliebten Heimat, Tyrannei und Unmenschlichkeit sind Themen, denen sich Klaus Schikore in seinen Büchern widmet und die ihn auch im Herbst seines Lebens noch ansporn ten, seinen literarischen Kampf gegen das Vergessen" unermüdlich fortzusetzen. „Gegen das Vergessen" lautet der Titel des. jüngsten von dem Buchautor aus Osterholz-Scharmbeck vorgelegten Gedichtbandes (ISBN: 9783753176611). Darin festgehalten sind Stimmen hinter Mauern und Stacheldraht, von solchen Gefangenen wie auch Schikore einer war, 1945 vom sowjetischen NKWD verschleppt und nach einer für subversiv befundenen Flugblattaktion im „Gelben Elend" von Bautzen eingesperrt. Die prominenteste Stimme, die der 1929 in Stralsund geborene Studiendirektor im Ruhestand für seine neueste Veröffentlichung ausgewählt hat, ist die von Heinrich George. Der berühmte Schauspieler, der 1946 im sowjetischen Speziallager Sachsenhausen sein Leben ließ, ist in „Gegen das Vergessen" mit drei Gedichten aus seinem Todesjahr vertreten. Es ist immer noch äußerst berührend zu lesen, welches Ende er sich vom Schicksal erbittet: „In Freiheit will ich sterben, in himmlischer Luft, den König Lear noch einmal spielen."

Verfasst in den Verliesen der sowjetischen Geheimpolizei, in Speziallagern und hinter DDR-Kerkermauern, sollen die von Schikore ausgesuchten Gedichte nachfolgenden Generationen,das Erleben in sowjetischen und kommunistischen Konzentrationslagern noch einmal ins Bewusstsein rufen". Eben aus Gründen, die mit der Gegenwart und der Zukunft mindestens so viel zu tun haben wie mit der Vergangenheit. Schikore will mahnen, warnen und sensibilisieren. Noch heute blieben die Stimmen Verfolgter kaum gehört und unbeachtet, klagt der frühere Kommunalpolitiker an.

„Wer mit einem Bleistift erwischt wurde, büßte mit sieben Tagen Karzer."

Klaus Schikore, Buchautor

Der erste Teil des Bands enthält Gedichte, die bereits in den frühen Nachkriegsjahren in dem Buch „Ihr aber steht im Licht - eine Dokumentation aus sowjetischen und sowjetzonalem Gewahrsam" erschienen sind. Er ist seinem 1994 verstorbenen Freund Wolfgang Natonek gewidmet, ebenfalls politischer Häftling der Sowjets und der späteren DDR. Kommilitonen während des Germanistikstudiums an der Universität Göttingen, haben die beiden Leidensgenossen und Weggefährten in einem fünfköpfigen Gutachtergremium gearbeitet, das 3052 Gedichte redigierte, die von 230 Verfassern stammten und in den Jahren 1945 bis 1960 entstanden.

 

In “Gegen das Vergessen" erhebt sich eine Stimme aus Workuta, wird ein Gefangenentransport geschildert („Rostigrote Güterwagen Menschenelendslasten tragen") und in der Erinnerung an die Tochter geschwelgt. Klaus Jelonnek nimmt in der „Pankower Hymne" den „humanen Strafvollzug" im neuen Deutschland" spöttisch aufs Korn (Kohldampf, Flöhe und Glatzen").

In einem zweiten Teil veröffentlicht Schikore Gedichte aus seinen sechs Bautzener Haftjahren, von denen einige bereits erschienen, andere aber Erstveröffentlichungen. sind. Der studierte Germanist und spätere Schulmeister" nennt die bisher zurückgehaltenen Verse poetische Stehversuche", die nur für die Familie bestimmt waren. Den jetzt erfolgten Sinneswandel erklärt er damit, dass die erstmals veröffentlichten Gedichte demonstrieren könnten, „wie in der Abgeschiedenheit von jeglicher literarischer Korrespondenz der Einzelne, der sich gegen seinen Ausschluss von Welt wehrt", an seiner Sprache wachsen könne. Schikore selbst will sich in seiner Unfreiheit von Einsamkeiten freigeschrieben haben". Der junge Gefangene aus Stralsund benutzte dafür einen Blechnapf, in den die Essensration eingefüllt zu werden pflegte. Er rieb den Boden des Gefäßes so lange an der Zellenwand, bis er Fett auf die angeraute Fläche streichen konnte. Mit einem Aluminium-Nagel, den er bei einem der Hofgänge erbeutet hatte, ritzte er Buchstabe für Buchstabe der Verse ein, die er in seiner Zelle ersonnen hatte. 144 insgesamt. Ein höchst gefährliches Unterfangen. „Wer mit einem Bleistift erwischt wurde, büßte dafür mit sieben Tagen Karzer."

Seiner eindrucksvollen zweiteiligen Gedichtsammlung hat Klaus Schikore noch einen lyrischen Abschiedsgruß an die Heimat" (ISBN-10: 3753127736) zur Seite gestellt. Eine Hommage in drei Teilen an die Ostseeküste, an seine Heimatstadt Stralsund und an Hiddensee. Im dritten Teil wartet er mit einem Sonetten-Zyklus auf, in dem er geflammten Ginster vom grünen Inselhang grüßen und Bekassine in schwere Luft aufsteigen lässt.

 



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Klaus Schikore

Klaus Schikore, geboren 1929 in Stralsund, hat zwei deutsche Diktaturen überlebt, ein Flücht lingsschicksal, politische Verfolgung und Gefangenschaft durchlitten. Seine Erinnerungen sind es allemal wert, auch für die Nachwelt festgehalten zu werden. Der in Osterholz-Scharmbeck lebende Studiendirektor im Ruhestand hat dies mit verschiedenen Büchern, Gedichten und Lesungen getan. Schikore wurde gleich zweimal festgesetzt, das erste Mal, 1945, mit 15 Jahren, vom sowjetischen NKWD verschleppt und ins Stralsunder Gefängnis Bielkenhagen gebracht. 1948 wurde er - nach einer für subversiv befundenen Flugblattaktion ein zweites Mal von der militärischen Polizei des Innenministeriums verhaftet und eingesperrt. Von einem sowjetischen Mili tärtribunal in Abänderung der Todesstrafe zu 25 Jahren Zuchthaus verurteilt, wurde Schikore. amnestiert und 1954 aus der DDR-Haft entlas sen. Nur Monate später gelang ihm mit seiner Ehefrau (Co-Pilotin meines Lebens" ) die Flucht in die Bundesrepublik, wo er von 1955 bis 1961 in Göttingen Germanistik, Geschichte und Philosophie studierte. Seit 1963 wohnt er in Osterholz-Scharmbeck, wo er von 1968 bis 1976 für die SPD ein Mandat im Stadtrat aus übte. MSO

Weser-Kurier, 18. Juni 2021