Als ich Klaus Schikore lange vor der Erlangung der Deutschen Einheit in Osterholz-Scharmbeck/Nds. kennenlernte, konnten wir nicht wissen, daß wir uns eines Tages in Greifswald in Mecklenburg-Vorpommern wiedertreffen würden, beide bemüht, unseren Beitrag zur Vereinigung Deutschlands zu leisten. Zwischenzeitlich war 1993 sein erstes Buch "Kennungen - Landmarken einer Wandlung" erschienen, ein autobiographischer und dokumentarischer Erzählbericht zur deutschen Geschichte, der mich stark beeindruckt hatte. 1948 hatte er als 19-jähriger Oberschüler kurz vor seiner Verurteilung durch ein sowjetisches Militärtribunal an der Mauer des Greifswalder Gefängnisses stehen müssen. Mit der Drohung seiner Erschießung sollte ein Geständnis erzwungen werden.
In vielen Gesprächen mit in dieser Zeit inhaftierten ehemaligen Studenten und anderen Opfern hatte ich - damals als erster Dekan der wiederaufzubauenden Rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät der Greifswalder Ernst-Moritz-Arndt-Universität - von solchen und anderen Methoden der Geständniserlangung gehört. In den letzten Jahren hat sich Greifswald im Stadtbild sehr stark verändert. Die Zahl der renovierten Häuser ist groß, Straßen und Plätze sind wiederhergestellt. Das Greifswalder Gefängnis ist abgerissen, im mit Sorgfalt wiederhergestellten alten Kriminalgerichtsgebäude - zu DDR-Zeiten Residenz der Staatssicherheit - haben das Landesverfassungsgericht und das Oberverwaltungsgericht des Landes Mecklenburg- Vorpommern sowie das Greifswalder Verwaltungsgericht ihren Amtssitz. Im Innenhof des ehemaligen Gefängnisses beherrschen an schönen Sommertagen Konzerte und Aufführungen des Greifswalder Theaters die Szene. Allein die Gefängnismauer steht noch und wird von der Theaterregie effektvoll in das Bühnenbild integriert. Kaum etwas erinnert mehr an Schicksale wie das von Klaus Schikore und vielen anderen. Nur der verglaste Wachturm an der Mauer läßt erahnen, daß hier die Normalität des Rechtsstaates nicht immer zu Hause war.
Heute, nach fünf weiteren Jahren, legt Klaus Schikore uns sein zweites Buch "Trennungen" vor, nachdem sein erster Lebensbericht bereits 1994 in zweiter Auflage erschien. Der Autor spürt, daß sich zwischenzeitlich nicht nur das äußere Erscheinungsbild in den Städten und Dörfern des Ostens gewandelt hat - auch die Befindlichkeit der Menschen hat sich geändert. "Darum habe ich meine Geschichte gegen das Vergessen geschrieben", so sagt er, und nennt das Buch selber einen "Bericht". Dieser Charakter wird bestärkt durch die zahlreichen Dokumente und Bilder, die trotz ihrer persönlichen Bezüge gleichsam als Quellen dem Text beigegeben sind. Dennoch ist das Buch nicht nur ein autobiographischer - dokumentarischer Erzählbericht. Der Autor versteht es gleichzeitig, seine Leser zu fesseln, so daß es sich liest wie ein Roman.
Dies wirft aber wiederum Fragen auf: Besteht bei einem so persönlichen Bericht nicht die Sorge, daß man in Konflikte mit der historischen Wahrheit getrieben wird? Besteht nicht sogar die Gefahr der Verfälschung von Geschichte, wenn sie vorrangig aus dem Erleben des Autors interpretiert, wenn sie also für persönliche oder literarische Zwecke genutzt wird? Ist das, was dabei entsteht, eher ein historischer Roman oder ein Beitrag zur Geschichtsschreibung?
Wichtig ist wohl, daß die Grenze zwischen Dichtung und Wahrheit für den Leser stets sichtbar bleibt. Mögen das Vor- und Nachwort an seine Söhne sowie die in den Berichtstext eingestreute Lyrik auch mehr auf die Dichtung deuten. Wenn es bei der Aufzeichnung von Geschichte aber darum geht, zu sagen " Wie es gewesen ist", so ist die Grenze zwischen Dichtung und Wahrheit so eindeutig zugunsten der letzteren verschoben, daß dieser Bericht gerade wegen seiner autobiographischen Bezüge Geschichtsschreibung ist. Leben und Überleben im totalitären Staat wird nur deutlich im detaillierten konkreten Bericht, ist erst faßbar in der Auswahl von Episoden, die sich zu einem Bild formen.
Dem Historiker im Autor gelingt es immer wieder, sein eigenes Schicksal und persönliches Erleben in den Rahmen historischer Gesamtzusammenhänge einzustellen.
In diesem Jahrhundert stehen wir zum zweiten Mal vor der schwierigen Aufgabe der Aufarbeitung einer nicht rechtsstaatlichen Vergangenheit. Nach dem Zusammenbruch totalitärer Herrschaftssysteme ertönt verständlicherweise zunächst der Ruf nach einer Feststellung und Wiedergutmachung staatlich begangenen Unrechts - auch mit den Mitteln der Strafjustiz. Aber das Strafrecht muß die Zurechnung von Unrecht an individueller Schuld festmachen, muß den Grundsatz "keine Strafe ohne Gesetz" achten und im Strafverfahren die Grenzen beachten, die ihm durch die Grundsätze eines rechtsstaatlichen Verfahrens gesetzt sind, will es nicht begangenem Unrecht neues hinzufügen. Das Strafrecht kann daher bei der Aufarbeitung solcher Vergangenheiten nur beschränkt wirksam werden. Der Rechtsstaat ist nun einmal kein Rachestaat und Volkszorn ist kein Rechtsprinzip. Einen "kurzen Prozeß" kann es nicht geben.
Und so haben selbst diejenigen, die in verständlichem und gerechtem Eifer mit der Vereinigung Deutschlands "Gerechtigkeit" einforderten, erkennen müssen, daß die Notwendigkeit revolutionärer Gerechtigkeit und die Normalität des Rechtsstaates nur schwer zusammenpassen.
Auch Klaus Schikore ist Unrecht geschehen. Nicht ohne Grund hat die russische Generalstaatsanwaltschaft das Strafurteil gegen ihn aufgehoben und ihn somit rehabilitiert. Dennoch verstehe ich Klaus Schikores Bericht über die Stationen seines Lebens eher so, daß es ihm weniger auf eine "Bewältigung" der Vergangenheit i. S. von Schuldzuweisungen ankommt. Es geht ihm mehr um die Bewältigung der Zukunft, die er in einer Versöhnung von Ost und West sieht. Versöhnen kann sich aber nur der, der weiß, was gewesen ist und was uns alle geprägt hat. "Erst im Kennenlernen unserer Biographien werden wir begreifen, wer wir geworden sind". So sagt der Autor des Buches. " Wir müssen uns jetzt in unseren auseinandergelebten Biographien einen, Trennungen ausleben - ans Ende bringen - jedoch in der Verantwortung der Generationen, nicht zu vergessen, was uns getrennt hat."
In dieser Einsicht ist Klaus Schikore offensichtlich seiner Zeit wieder einmal ein Stück voraus - nur muß er diesmal nicht in einem Zuchthaus darauf warten, daß die Zeit ihn einholt. Momentan wird in der Diskussion um unsere jüngste Vergangenheit allerdings noch die ganze Brisanz ausgelebt, zu der Zeitgeschichte fähig ist. Von daher führen verbale Breitseiten wie die undifferenzierte Verdammung der DDR als "Unrechtsstaat" genauso wenig weiter wie das Wort derer von der "Siegerjustiz", die meinen, sie hätten seinerzeit als ehemals Mächtige der DDR gleichsam ein Naturrecht auf Staatswillkür gehabt.
"Gerechtigkeit gegen Zeitgenossen ist immer eine schwere Tugend gewesen", so hat Theodor Fontane formuliert. Die starke biographische Verstrickung der Darsteller in die von ihnen geschilderten Vorgänge ist aber naturgemäß auch heute ein Methodenproblem der Zeitgeschichte. Ich meine, der Umgang mit Geschichte "während sie noch qualmt", erfordert eine verbale Abrüstung. Das heißt keinesfalls, daß Recht nicht Recht und Unrecht nicht als Unrecht gezeichnet werden dürfte. Wir wären aber dem von Klaus Schikore ins Auge gefaßten Ziel der Versöhnung ein Stück näher, wenn wir ein Wort des Juristen Günter Dürig beherzigen würden: "In der Diktatur ist nicht alles falsch, aber das Ganze ist falsch. Im demokratischen Rechtsstaat ist nicht alles richtig, aber das ganze geht in die richtige Richtung." In diesem Sinne wird jede Generation immer wieder neue Antworten auf die Fragen der deutschen Nachkriegsgeschichte finden müssen.
Klaus Schikore ist ein Grenzgänger zwischen Ost und West, der die deutsche Trennung bis in die Familie hinein erlebt und erlitten hat. Sein Buch ist ehrlich, da es Wahrheit im Osten einfordert, gleichzeitig aber auch zur Redlichkeit im Westen fähig ist.
Greifswald, im Oktober 1998
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