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Rückschau

Zeitzeugengespräch am 17.11.2023 im Hansa-Gymnasium zu Stralsund

Da saß ich nun vor der versammelten Oberstufe des Hansa-Gymnasiums auf dem Podium der alten ehrwürdigen Aula – mit Mikrophon und für ein Fernseh-Team des Norddeutschen Rundfunks verkabelt – und sollte in einem Zeitzeugengespräch mit drei Moderatorinnen der 12. Klassen aus meinem Leben und vor allem auch über meine Verhaftung aus dem Unterricht vor nun 75 Jahren, am 19 November 1948,  erzählen.  Über drei Themenfelder haben die jungen Damen mich befragt: 1) Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus (1929-1945),  2) Hansa-Schüler und Verhaftung / politischer Häftling in der SBZ bzw. DDR (1945-1954),  3) Flucht, Neubeginn und Leben in der BRD / Reflektion (1954 – Gegenwart.)  Eine vierte Moderatorin führte vor dem jeweiligen Themenfeld in den historischen Hintergrund ein.

Nun waren öffentliche Auftritte für mich keine ungewohnten Begebenheiten: weder als jahrelanger Schulmeister eines Gymnasiums und in der Schulleitung tätig, noch in zwei Legislaturperioden als gewählter Ratsherr der Stadt Osterholz-Scharmbeck und auch nicht als aktives Mitglied der Friedensbewegung in den 70er und 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts.

Jetzt aber standst du als noch lebende Person am Lebensausgang vor jungen Menschen, die deinen Namen eingeritzt finden auf einer Gedenktafel im Foyer ihrer Schule, wenn sie ihre Blicke denn darauf richten. Das war schon ein eigenartiges Gefühl:  Könnten sie die Erlebnisse, Erfahrungen und Bilanz eines nun 94jährigen Lebens überhaupt nachvollziehen, begreifen?  Und das in einem Deutschland, welches nach zwei überstandenen Diktaturen und mehr als dreißig Jahre nach seiner Wiedervereinigung die Wunden einer vierzigjährigen Teilung immer noch in sich spürt?

Da habe ich mich unbewusst – nach nun mehr als dreißig Jahren aus dem Schuldienst ausgeschieden – wieder als der ehemalige Schulmeister gesehen, der jungen Menschen die Geschichte ihres Landes mit ihren Irrungen und Wirrungen sowie seine persönlichen Erfahrungen aufzuzeigen hatte. Da habe ich sie in eine Zeit führen müssen, die sie bei ihren Eltern gar nicht mehr nachfragen können (NS) oder kaum mehr nachfragen wollen (DDR). Das Zeitzeugengespräch auf dem Podium der Aula nahm seinen Lauf.

Ja, da musste ich den Schülern einmal sagen, das alle pauschalen Urteile über das NS-System historisch nicht haltbar seien – nur individuelles Verhalten des einzelnen, die persönlichen Motive richten über Schuld und Mittäterschaft in einem politischen System. Mein Vater stammte aus einem königlich-preußischen Elternhaus in Swinemünde und habe nach seiner Heimkehr 1919 aus amerikanischer Internierung und einer Drogisten-Ausbildung 1929/30 zum Nationalsozialismus gefunden und dort bald ehrenamtliche Funktionen in der NSDAP und der Allgemeinen SS in führender Stellung eingenommen. Nach seinem frühen Tod 1940 im Dienst der Waffen-SS hat dann die SS meine weitere Ausbildung übernommen. So wurde ich im Frühjahr 1942 bis zum Kriegsende ein Zögling auf der NPEA-Rügen (Napola), eine der Elite-Schulen des „Dritten Reiches“, der ersten deutschen Diktatur im vergangenen Jahrhundert.

Mitte Mai 1945 wurde ich als noch Fünfzehnjähriger ein erstes Mal von den neuen Machthabern der SBZ verhaftet und dem sowjetischen NKWD ausgeliefert, kam aber bald wieder frei. Am 19. November 1948 – ein halbes Jahr vor dem Abitur – wurde ich dann ein zweites Mal verhaftet: aus dem Mathematikunterricht der damaligen Hansa-Oberschule und mit zwei weiteren Schülern aus den 10. Klassen. Wir hatten uns in zwei Flugblatt-Aktionen gegen die politischen Übergriffe von SED und sowjetischer Besatzungsmacht gewehrt.  Die Gedenktafel im Foyer des Hansa-Gymnasiums erinnert an unseren „Auszug“ damals. Ich bin nun der letzte Überlebende jener drei Stralsunder Oberschüler, die aus dem Unterricht verhaftet wurden: Jürgen Handschuck verstarb schon 1950 im Lager Waldheim,  Wolfgang Wober 1999  in München.

Die Moderatorinnen aus den 12. Klassen hatten also genug „Stoff“, mich über mein Leben und über die Erfahrungen aus zwei deutschen Diktaturen zu befragen.
Von Herrn Fleckeisen, dem Projektleiter der Geschichtskurse aus der 11. und 12. Klasse, erhielt ich nun einige Schülerstimmen über deren Auswertung jenes Zeitzeugengesprächs; zu drei Fragen sollten die Schüler sich schriftlich äußern: 

  1. Was hat euch am meisten beeindruckt?
  2. Gibt es offene Fragen?
  3. Welche Botschaft habt ihr an Herrn Schikore?


Hier nun einige Auszüge der mir überlassenen Antworten:

Vom Projektleiter erhielt ich u. a. folgende Aussage:
Und, so viel kann ich und will ich Ihnen gerne mitteilen:  Sie haben bleibende Eindrücke bei Schülern und Kollegen hinterlassen. Ein herzliches Dankeschön an dieser Stelle!  Anbei auch ein paar Schülerstimmen, die stellvertretend für die Beteiligten stehen  …  Das Zeitzeugengespräch nahm eine Kollegin auf. Zusammen mit den Moderatorinnen werden wir das Ereignis zum kommenden „Tag der offenen Tür“ für die Öffentlichkeit präsentieren.

​​Eine Schülerin aus der 12. Klasse (Johanne C.) notiert kurz zur ersten Frage: 
– mitreißende und sehr authentische Erzählweise, hat alle mitgerissen    – „zweimal dem Tod ins Auge geblickt“ (beide Momente)    – Botschaft, dass wir dafür kämpfen müssen, dass nie wieder ein autoritäres System hier übernimmt (demokratische Werte verteidigen, kategorischer Imperativ    – sehr reflektierte Erzählung auch über NS-Vergangenheit (selbstkritisch)    – nicht verleugnet „ich war überzeugt von der Ideologie“ … steht dazu und lernte daraus, Demokratie zu verteidigen (s. Botschaft)      – extrem starke und beeindruckende Persönlichkeit – „Heimat ist Stralsund“.

Ebenfalls aus einer 12. Klasse schreibt zu Ziffer 1) Paul W.:
Mich beeindruckten zum einen die Botschaften von Herrn Schikore an die Schüler stark. Vor allem die Erwähnung des kategorischen Imperativs und die Aussage „Ich wünsche, eure Generation wird friedenstüchtig und nicht kriegstüchtig“, die er zweimal formulierte. Zum anderen war seine Erzählung von der Gefangenschaft in Bautzen sehr bewegend.   

Und zu  Ziffer 3) schreibt er: 
Vielen Dank für das Gespräch und die vielen interessanten Anekdoten und Appelle! Sie haben einen wichtigen Beitrag geleistet, um die Generationen nach Ihnen für den Frieden zu gewinnen. Von Ihren Erfahrungen und Eindrücken sollten noch weitaus mehr Menschen hören und dadurch verstehen, wie wichtig Frieden, Freiheit und Demokratie sind. Danke, dass Sie so etwas machen und gemacht haben!

Aus einer 11. Klasse schreibt der Schüler Ole H. zu Ziffer 1): 
Mich hat am meisten beeindruckt, aber auch gerührt, mit welcher Art und Weise das Gespräch von Herrn Schikore geführt wurde. Er hat uns emotional daran teilnehmen lassen, eine Reise seiner Erlebnisse und Gefühle mitzuerleben. Er hat mit einem klaren Gedächtnis so viele Sachen erzählt, an die er sich erinnert und so gut formuliert. Das allein ist bewundernswert und hat vollsten Respekt verdient.

​​​​​​​Und zu Ziffer 3) schreibt er: 
Sehr geehrter Herr Schikore, Sie sind ein beeindruckender Mann, vor dem ich meinen größten Respekt habe. Vielen Dank, dass Sie uns auf Ihrer Reise noch einmal mitgenommen haben. Und ich denke, dass ich im Namen der ganzen Schule sage: Das war ganz großes Kino, auch welch wahre und rührende Appelle Sie an uns gegeben haben. Ich wünsche Ihnen und Ihrer Familie viel Gesundheit und hoffe, dass Ihnen Ihr „letzter Besuch“ an unserer/Ihrer Schule gefallen hat.

Beenden möchte ich die Schüleraussagen mit Worten von Milena Perisa, meiner Moderatorin zum zweiten Themenfeld, hier zu Ziffer 3) der Auswertung:
Lieber Herr Schikore, ich schätze es sehr, die Möglichkeit bekommen zu haben, mich mit Ihnen so ausführlich über Ihre Geschichte zu unterhalten. Dieses Erlebnis wird mir für den Rest meines Lebens in Erfahrung bleiben. Ich habe mich sehr darüber gefreut zu sehen, wie sehr Sie sich auch mit unserer Generation auseinandergesetzt haben. Ich danke Ihnen für Ihre Offenheit und für all das Wissen, dass Sie uns mitgegeben haben.

Als zum Schluss des Zeitzeugengesprächs in der Aula des Hansa-Gymnasiums mein Sohn Tim auf seiner Gitarre die Variationen über ein Thema von Mozart (Op. 9) des spanischen Gitarristen  Fernando Sor (1778-1839) beendet hatte, durfte ich mit meinen nun 94 Jahren erleben, wie sich die jungen Menschen im Saal erhoben und uns auf dem Podium stehend Beifall zollten. Ein auch für mich ergreifender Abschluss meiner Lebensgeschichte.

                    *

Auf Bitten der Leiterin des Fernseh-Teams vom Vorpommernstudio des NDR, Frau Juliane Voigt, haben wir uns am kommenden Tag in Putbus erneut getroffen, um dort mit mir Filmaufnahmen über meine Schulzeit auf der NPEA-Rügen, dem ehemaligen Fürstlichen „Pädagogium“, zu drehen. Leider hat der jetzige Besitzer des Hauses, heute als „Parkhotel“ ausgewiesen, Dreharbeiten im Hause nicht gestattet. So konnte ich, von meiner Enkelin Valentina (12 Jahre) und einer Dame vom Prora-Zentrum e. V. begleitet und über meine Schulzeit dort befragt, nur vom Außenbereich des ehemaligen Anstaltsgebäudes aus Auskünfte geben.    –

Es waren für mich zwei anstrengende, aber für die Ausleuchtung einer deutsch-deutschen Vergangenheit und ihre historische Erinnerung doch notwendige Tage, die ich – auch für meine Familiengeschichte – gerne auf mich genommen habe.