Im Strom des Lebens

Michael Schön 29.09.2020

Osterholz-Scharmbeck. Klaus Schikore, geboren 1929 in Stralsund, hat zwei deutsche Diktaturen überlebt, ein Flüchtlingsschicksal, politische Verfolgung und Gefangenschaft durchlitten. Scharf bis ins Detail hat sich ihm das Erlebte ins Gedächtnis gegraben, und diese Erinnerungen sind es allemal wert, auch für die Nachwelt festgehalten zu werden. Der in Osterholz-Scharmbeck lebende Studiendirektor i.R. hat dies mit verschiedenen Büchern, Gedichten und Lesungen getan. Im Herbst eines bewegenden, politisch bewusst und aktiv geführten Lebens liefert er ein weiteres Buch, das er als sein letztes ankündigt: „Zurück gefragt – nach vorne geschaut".  Er nennt es den „historisch-politischen Nachlass eines Neunzigjährigen“. Seine eigene Familiengeschichte – preußische Herkunft, pommersche und schlesische „Linien“ – hat er darin kunstvoll mit dem jeweiligen Zeitgeschehen verwoben. Darüber hinaus greift er noch tiefer in die Geschichte zurück, zu den europäischen Wurzeln im antiken Griechenland, um sich von dort über die Karolinger bis zu den preußischen Königen und Kaisern aus dem Haus Hohenzollern vorzuarbeiten. Im zweiten Teil des Buches blickt der Autor auf seine Jugend als Zögling und Opfer zweier deutscher Diktaturen zurück, im dritten setzt er sich mit der gegenwärtigen Politik in Europa auseinander.

Schikore bemüht eingangs ein Zitat Christian Friedrich Hebbels: „Geschichte ist das Bett, das der Strom des Lebens sich selbst gräbt.“  Der in der Spätphase der Weimarer Republik geborene Sohn eines Offiziers der Handelsmarine hat nach dem Ende der ersten deutschen Demokratie verschiedene Staatsformen erlebt: die Nazi-Diktatur, danach die Regimes in der sowjetischen Besatzungszone sowie der DDR und schließlich die parlamentarischen Demokratien in der Bundesrepublik und im wiedervereinten Deutschland.

Der Repression der Nationalsozialisten und dann der SED im sowjetischen Nachkriegsdeutschland sind viele der über 200 Seiten gewidmet. Schikore wurde gleich zweimal festgesetzt, das erste Mal, 1945, mit 15 Jahren,  vom sowjetischen NKWD verschleppt und ins Stralsunder Gefängnis Bielkenhagen gebracht. 1948 wurde er – nach einer für subversiv befundenen Flugblattaktion – ein zweites Mal von der militärischen Polizei des Innenministeriums verhaftet und eingesperrt.

Bedrückende Schilderung

Besonders bedrückend für den Leser ist die Schilderung einer Scheinexekution, die Schikore, wie er sagt, beschreibt, um zu demonstrieren, was „willfährige Diener in totalitären Staaten mit Menschen machen, die sich gegen das System auflehnen“. Er wird aus der Zelle geführt, die Füße in Schuhen ohne Schnürsenkel, an Soldaten mit aufgepflanzten Bajonetten vorbei in den Gefängnishof, wo er mit dem Kopf zur Wand stehend auf den Tod wartet. Dann russische Kommandorufe, das Klicken von Gewehrläufen – und zurück in die Zelle. Von dort wird er später nach Bautzen ins „Gelbe Elend“ (so der Volksmund wegen des so gefärbten Backsteinkomplexes) abtransportiert.

Klaus Schikore wurde damals von einem sowjetischen Militärtribunal in Abänderung der Todesstrafe zu 25 Jahren Zuchthaus verurteilt, aber amnestiert und 1954 aus der DDR-Haft entlassen. Nur Monate später gelang ihm mit seiner Ehefrau („Co-Pilotin meines Lebens“ ) die Flucht in die Bundesrepublik, wo er von 1955 bis 1961 in Göttingen Germanistik, Geschichte und Philosophie studierte. In seinem Buch beschreibt er auch, wie er politisiert und schließlich Politiker wurde. Der spätere SPD-Ratsherr in der Kreisstadt (1968 bis 1976) wurde in seinem ersten Dienstjahr auf dem Osterholz-Scharmbecker Gymnasium „angeschwärzt“. Er würde „kommunistischen“ Unterricht machen. Der Vater, von dem die Vorwürfe stammten, hatte sich mit seiner Beschwerde laut Schikore an seinen Parteikollegen im CDU-Kreistag gewandt. Der Autor schreibt, er sei in Bautzen „immunisiert“ worden gegen die „für Deutsche so typische Art der Denunzierung“. Er habe eine „Aussprache mit Gegenüberstellung“ verlangt, woraufhin die Gegenseite habe klein beigeben müssen.