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Verse in Butter geritzt
Klaus Schikore erinnert in seinem aktuellen Buch an sein bewegtes Leben

Ulrike Schumacher 05.08.20180 Kommentare

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Klaus Schikore hat ein bewegtes Leben geführt. In seinem neuesten Buch erinnert er an die eine oder andere Episode. (Maximilian von Lachner)

Osterholz-Scharmbeck. Was macht einer, der gern schreiben möchte, aber keinen Stift besitzt? Keinen Stift besitzen darf. „Wenn man einen Bleistift hatte und erwischt wurde", sagt Klaus Schikore, „bedeutete das sieben Tage Karzer." Dreimal mit einem Bleistift erwischt zu werden, kam in Bautzen einem Todesurteil gleich. 21 Tage Karzer hätte man wegen der unmenschlichen Haftbedingungen nicht überlebt, erzählt der Studiendirektor im Ruhestand.

Die Erinnerungen an seine Zeit als Häftling in Bautzen, das im Volksmund wegen der Farbe der Klinker „Gelbes Elend" genannt wurde, sind auch Jahrzehnte später so präsent als sei ihm all das gerade eben erst widerfahren. Klaus Schikore erhebt sich aus seinem Sessel, um etwas zu holen. Es ist sein Blechnapf aus jenen Tagen. Dessen Bedeutung speist sich nicht nur aus den Essensrationen, mit denen der Häftling damals über die Jahre kam. Klaus Schikore dreht das Gefäß über Kopf und deutet auf den Napfboden. Den hatte er an der Zellenwand porös gerieben, dann Fett auf die raue Oberfläche gestrichen, um darauf die Gedichte niederzuschreiben, die er in seiner Zelle ersonnen hatte. 144 waren es. „Als Stift diente ein Aluminium-Nagel, den ich bei einem der Hofgänge ,stolpernd' aufgesammelt hatte", erzählt er. Verboten war auch dies. Auch darauf standen sieben Tage Karzer. Und nicht nur einmal mussten seine Hände zur Sicherheit die eben in Fett geritzten Buchstaben wieder glattwischen.

Das Schreiben hat Klaus Schikore bis heute nicht aufgegeben. Seine Bautzener Gedichte hat er später veröffentlicht. Er hatte die Verse in die Zeilen der Briefe eingearbeitet, die er nach Hause schickte. Unter den Augen seiner Bewacher. „Das haben die gar nicht gemerkt", sagt der Autor, und es klingt heute noch ein bisschen verwundert. „Viele Gedichte habe ich aber auch in meinem Kopf abgelegt", fügt er hinzu. „Das war für mich ein unheimliches Gedächtnistraining." Drei Gedichtbände und vier Lebensbeschreibungen hat der Osterholz-Scharmbecker im Selbstverlag herausgegeben. Sein jüngstes Buch, das im Frühjahr unter dem Titel „Die verurteilte Generation (Erinnerung – Rechenschaft – Mahnung)" erschienen ist und für 28,99 Euro erworben werden kann, schlägt über 260 Seiten noch einmal den Bogen seines fast 90-jährigen Lebens.

1991 hatten die Erinnerungen zum ersten Mal aus ihm herausgewollt. „Damals unternahm ich einen Segeltörn über meine alte Heimat Stralsund." Seitdem gibt er seinen Lebenserfahrungen, Lebensgedanken und Lebensüberzeugungen immer wieder schriftlich Ausdruck. „Es greift nach einem", beschreibt Klaus Schikore, den viele kurz „Schiko" rufen, seinen Drang zu formulieren. „Vielleicht kommt auch der alte Schulmeister durch", fügt er schmunzelnd hinzu. Klaus Schikore hat in Osterholz-Scharmbeck, wo er seit 1963 lebt, das Gymnasium mit aufgebaut und unzählige Schülerinnen und Schüler zum Abitur geführt.

Nun hat der Mann, der an der Universität Göttingen Germanistik, Geschichte und Philosophie studierte, seine Geschichte für seine Kinder und deren Familien niedergeschrieben. „Am Ausgang eines langen, oft unruhigen und doch dankbar empfundenen Lebens, gegen Ende von nun fast biblisch erreichten neun Jahrzehnten", schreibt der Autor im Vorwort, „ist es an der Zeit, im Rückblick auf dieses gelebte Leben noch einmal Bilanz zu ziehen und zu fragen, was an Erfahrungen, Erkenntnissen und auch Einsichten an die nachfolgende Generation zum Nachspüren einer Familiengeschichte weitergegeben werden kann." Es sind private Einblicke und zugleich Zeugnisse der Zeitgeschichte, wenn Klaus Schikore über seine Erlebnisse als Schüler einer Eliteschule des „Dritten Reichs" schreibt. Wenn er davon berichtet, dass er 1948 zusammen mit zwei Mitschülern aus dem Unterricht verhaftet wurde, weil sie in der Schule „Flugblätter gegen die Willkür von Besatzungsmacht und SED" verteilt hatten. Ein sowjetisches Militärtribunal verurteilte Klaus Schikore dafür damals in Abänderung der Todesstrafe zu 25 Jahren Zuchthaus. Tatsächlich endete seine Haft in Bautzen Mitte Januar 1954. Einen Monat später konnte er mit Hilfe seiner späteren Ehefrau – „Co-Pilotin meines Lebens" – aus der DDR in den Westen fliehen. Er habe eine Menge an historischen Details erlebt, sagt Klaus Schikore. Sie gehören zu den Erinnerungen und Gedanken, die er für seine Familie niedergeschrieben hat. Für sie zuerst, aber auch für andere interessierte Leser.